Freitag, 13. Juli 2012

Im Mainstream


Mainstream: die Hauptströmung, das Etablierte, die Mitte, der Durchschnitt.

Durchschnitt klingt langweilig und stumpf, aber auch beruhigend und bequem. Niemand will Durchschnitt sein, obwohl wir alle davon profitieren. Es gibt auch immer einen Durchschnitt, ob wir ihn wollen oder nicht. Ob es immer eine Schnittmenge gibt und wie groß sie sein könnte, ist eine andere Frage.

Die Mitte klingt viel sympathischer. Viele fühlen sich in der Mitte wohl und werben damit, wenn sie sich dort angekommen fühlen. Die Mitte der Gesellschaft ist besonders beliebt in der Politik. Ich bin gerne in eurer Mitte, ob im Verein oder in der Nachbarschaft. Und wenn ich in ihrer Mitte liege, dann ist das oft zwischen ihren Beinen. Win-win.

Das Etablierte fordert stets zum Niederreißen auf. Ihm lastet der Ruf des Eingestaubten, Verrosteten und Verbohrten an. Was etabliert ist, stellt nur den kleinsten gemeinsamen Nenner dar, lehrt uns unsere Erfahrung - oder wenigstens unser Bauchgefühl. Das Etablierte funktioniert gut, aber es ist nicht neu und schon gar nicht aufregend.

Die Hauptströmung fließt schnell und kraftvoll. Sie reißt viel mit und schwemmt viel hinfort auf ihrem Weg hinab ins Meer, wo sich alles vermischt. Sie beißt sich so lange an Widerständen die Zähne aus, bis diese Widerstände verschwunden sind. Für den flüchtigen Beobachter wirkt sie immer monoton, doch mit der Zeit verändert sie sich, denn sie geht mit ihr.
Was die Hauptströmung aber so besonders macht, sind ihre Nebenarme: die vielen kleinen Seitenströmungen, die sie hervorbringt und die sich neben ihr schlängeln. Diese Abzweigungen entstehen oft an Stellen, an denen man sie nicht erwartet hätte, an denen sie aber wunderbar ins Bild passen. Manche vereinigen sich später wieder mit der Strömung, die sie gebar, manche aber fließen auch parallel dazu, weil es klare Begrenzungen gibt, die sich nicht so einfach überwinden lassen. Und in jeder Strömung schwimmen andere Fische.

Warum schreibe ich das? Weil ich inzwischen weiß, wie sehr ich diese Seitenströmungen liebgewonnen habe. So lieb, dass es mir ohne sie langweilig wäre. Ich mag es, sie zuerst mit etwas Scheu zu entdecken, dann ihr Wesen gründlich zu erforschen, und schließlich zu beobachten, was darin schwimmt, um mich eines Tages vielleicht selbst darin zu tummeln.

Die Reize dieser kleinen Ströme rufen bei mir intensivere Reaktionen hervor als das meist monotone Rauschen des Mainstreams. Ich mag ihre spontane, temporäre, ungezähmte Natur, die sich frischer anfühlt als der von vielen Menschen geformte Hauptstrom. Das Kleine fasziniert mich, weil es nicht vieler Regeln bedarf. Das Ungewöhnliche, das selten Gesehene, das Erstaunende schärft meinen Blick und verschafft mir dadurch auch immer wieder Erregung. Da kommt de Sade ins Spiel:
Variety, multiplicity are the two most powerful vehicles of lust.
Ich springe hinein, bade, suhle mich und genieße dabei unbeobachtet von der Masse meine Lust, die sich vor mir ausbreitet - und vor uns, wenn Tabea an meiner Seite badet.

Trotz allem schätze ich den Mainstream als bequemes Fortbewegungsmittel, dessen Größe ich mir auch zu nutzen machen mag. Wie froh war ich, als ich mich nach schmerzvollen Jahren endlich dort angekommen sah! Mainstream muss nichts Schlechtes sein, aber ich bin mir über seine Limitierungen im Klaren. Ich schwimme in ihm, damit ich zwischendrin immer wieder anhalten und eine kleine wohltuende Abzweigung nehmen kann. Im Laufe der Jahre habe ich den großen Wert dieser Umwege für mich erkannt, dennoch sind viele Seitenarme bisher noch unentdeckt, weil ich noch gar nicht über sie nachgedacht, geschweige denn gesprochen habe - nicht mit mir, noch mit anderen. Ich möchte noch oft abbiegen, um mich hinzugeben. Wie gut, dass der Strom nie abreißt.

1 Kommentar:

tabsie hat gesagt…

...tja, siehtste Toni, da haste SO EIN GROSSES FASS aufgemacht, dass sie niemand traut, als erste/r zu kommentieren :-))))))...

Ok, ich trau mich vor, und steck mal meine Nase raus. Nur so viel:

Ich kann Deine Worte gut nach(voll)ziehen. Und bin ganz bei Dir.

Auch ich schwimm immer wieder hin und her, zwischen den verschiedenen Ufern, mit den starken und schwachen Strömen - und was uns verbindet ist die Neugier. Angst ist auch dabei.

Das schöne ist die Vielfalt, das Bunte, bis an die Grauzonen heran. Dahinter kommen die Grenzen.

Und ich habe das Gefühl, die Grenzen haben wir zwei auch immer wieder im Blick. Das ist gut so. Ansonsten wäre es gefährlich.

Verstehst Du, einzigartigster Toni? :-)))


Mit verliebten Grinsen,
Deine T***